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„Es tut sich etwas!“ Gelingt die Digitalisierung des Gesundheitswesens?

Martin Nokaj im Interview

Sprechstunde per Smartphone. Diagnose per Video. Patientenakte in der Cloud. Apps auf Rezept. Laboranalyse vom Roboter. Schöne neue Welt der Medizin oder digitaler Wirrwarr? Was bringt die Modernisierung des Gesundheitswesens mit sich – für Patienten und für Ärzte? Nutzen wir die Chancen des digitalen Wandels?

„Der Gesundheits-Check“ hat bei zwei ausgewiesenen Experten nachgefragt: Dr. Mathias Höschel, Vorsitzender des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit e.V., und Martin Nokaj, Mitglied der Geschäftsführung des Abrechnungs- und IT-Dienstleisters BFS health finance.

Zum selben Thema hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) uns im Rahmen unserer Online TV-Sendung  „Der Gesundheit-Check“ live ein Interview gegeben. Schauen Sie sich jetzt die Aufzeichnung der Sendung an!

2019 hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gesagt: „Wenn wir die Chancen des digitalen Wandels ergreifen, können wir den Patienten-Alltag besser machen.“ Wo stehen wir heute? Ist der Alltag der Patienten – aber auch der Beschäftigten im Gesundheitswesen – durch Digitalisierung spürbar besser geworden?

Höschel: Zunächst mal stellt sich doch die grundsätzliche Frage, ob man alle Probleme mit Digitalisierung lösen kann. Vor allem was Behandlung und Zuwendung anbelangt. Das wird nie allein mit digitalen Lösungen machbar sein. Abgesehen davon ist im Gesundheitswesen schon heute sehr viel digital – aber nicht wegen, sondern eher trotz der Politik. Ein großer Teil der Praxen macht schon seit weit mehr als zwei Jahren Online-Terminangebote für Patienten. Im ambulanten Bereich findet die digitale Datenverarbeitung zur Abrechnung längst fast flächendeckend statt. IT hilft auch, Personalknappheit aufzufangen. Aber was die Therapien betrifft, sollte man nicht dem Irrglauben erliegen, dass das Digitale die klinische Untersuchung, die Betreuung der Patienten, vor allem die Zuwendung zu ihnen, ersetzen kann.

Nokaj: Wir sollten eines nicht übersehen: Es tut sich etwas! Die Digitalisierung kommt gut voran. Das Jahr 2019 war mit dem Digitale Versorgung Gesetz (DVG) sowie der Vorlage des Patienten-Daten-Schutz-Gesetzes (PDSG) und der Ausgestaltung der elektronischen Patientenakte (ePA) und des e-Rezepts entscheidend für die Entwicklung des digitalen Gesundheitswesens hierzulande. So viel Fortschritt und Innovation in nur einem Jahr war vorher kaum vorstellbar. 2020 kam mit der Pandemie die Erkenntnis, dass digitale Lösungen für die Bewältigung der Krise eine wichtige Rolle spielen. Am Ende zählt allerdings nur was bei den Patienten ankommt.

Hat Corona das Modernisierungstempo stark gebremst oder auf Teilgebieten -wie bei den Videosprechstunden – sogar beschleunigt?

Nokaj: Mit der Corona-Pandemie ist eine neue Dringlichkeit entstanden. Immer mehr Praxen bieten ihren Patienten Videosprechstunden an. Hier haben wir als BFS health finance – einer der ersten Abrechnungsdienstleister in diesem Feld – einen Boost bei der Nutzung und Akzeptanz festgestellt. Wir erkennen, dass immer mehr Praxen ihren Patienten diesen Service bieten. Laut Angaben der Kassenärztlichen Berufsvereinigung (KBV) gab es im ersten Halbjahr 2020 fast 1,4 Millionen Videosprechstunden, die meisten im Bereich Psychotherapie. Wir brauchen diese Lösungen jetzt.

Höschel: Videosprechstunden können tatsächlich sehr hilfreich sein und manches erleichtern, aber nicht überall. Sie werden vermutlich eine „Barrierefreiheit“ beim Zugang zu ärztlichen Beratungsleistungen schaffen. Und wo das enden könnte, sehen wir zur Zeit in den Notdienstabteilungen der Krankenhäuser. Dort wird oftmals wegen Bagatellerkrankungen die Behandlung der tatsächlichen Notfälle verzögert oder erschwert.
Zum Beispiel Beratungen von Patienten, deren Krankheitsbild dem Arzt bekannt ist, Verlaufskontrolle bei chronisch erkrankten Patienten, Kontaktmöglichkeit für Patienten, die bewegungseingeschränkt sind und bei denen keine engmaschigen Hausbesuche möglich sind – vor allem im ländlichen Raum, sofern das Internet es zulässt und die technischen Voraussetzungen gegeben sind. Hier kann die Videosprechstunde segensreich sein.

Es werden immer mehr digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) angeboten. Wie steht es um die Nutzung? Werden Medizin-Apps von Patienten stark nachgefragt?

Höschel: Zum Beispiel in der Zahnheilkunde gibt es für bestimmte Behandlungen Monitoringtools, die die Besuchshäufigkeit beim Arzt verringern können. Diese speziellen Anwendungen sind recht teuer und mit erheblichem Aufwand für die Ärzte verbunden. Auch in anderen medizinischen Fachgebieten gibt es zunehmend Angebote. Die Entwicklung und das sogenannte Inverkehrbringen solcher Apps dauert seine Zeit, auch weil vor Zulassung für die Versorgung und Bezuschussung durch Krankenkassen lange Wege zu gehen sind. Generell scheint die Nachfrage nach digitalen Gesundheitsanwendungen derzeit noch nicht sonderlich hoch zu sein. Die Anzahl der Verordnungen ist gering. Das Potenzial ist aber gewaltig. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen Gesundheits-Apps verwenden, die entweder auf Mobilgeräten bereits vorinstalliert sind oder für geringes Geld käuflich zu erwerben sind. Die Nachfrage wird deutlich steigen und auch ein „Selbstzahlermarkt“ wird Leistungsangebote entwickeln, die bei Eignung ggf. später von privaten und gesetzlichen Krankenkassen bezuschusst werden.

Die vielzitierte „App auf Rezept“ ist wohl längst noch nicht gang und gäbe. Woran liegt das?

Nokaj: Aktuelle Zahlen des Health Innovation Hub (hih) zeigen, dass Apps auf Rezept von Patienten bereits über 20.000 Mal eingelöst wurden. Diese digitalen Angebote kommen demnach in der Versorgung an und werden diese auch langfristig sinnvoll ergänzen. Doch das geschieht nicht von heute auf morgen – hier ist Geduld gefragt. Ärzte und Psychotherapeuten lernen das Angebot der DiGAs gerade erst kennen und holen Informationen ein. Das sehen wir insbesondere an der Nutzung von Testaccounts über die Leistungserbringer, die Funktionsweise der App anschauen können und sich mit den Vorteilen im Laufe der Behandlung vertraut machen. Zusätzlich muss auch der Nutzen für die Ärzte (einen digitalen Helfer für seine Patienten im Lebensalltag zu etablieren) deutlich herausgestellt werden. Für die Ärzte muss und wird sich in Zukunft zeigen, dass DiGAs die Patienten mit zusätzlicher Gesundheitskompetenz ausstatten und diese handlungsfähiger machen.Ein weiterer Pluspunkt für die Leistungserbringer wäre die Aufnahme der DiGAs in das Arzneimittelverzeichnis. Positiv auf diesem Weg ist, dass der Gesetzgeber über den Fast-Track ein besonders schnelles Bewertungsverfahren einführte. Doch nicht alle DiGA-Hersteller sind etablierte, große Player im Gesundheitswesen. Häufig handelt es sich um Start Ups, die über wenig finanzielle und personelle Ressourcen verfügen, um die Anforderungen zu erfüllen. Hier sollte ein engmaschiger Austausch stattfinden, um innovative Ansätze nicht aufgrund fehlender Ressourcen zu benachteiligen.

Höschel: Wenn man in einer Hausarztpraxis mehr als 100 Patientenkontakte am Tag hat und so viele neue Dinge zugleich bewältigen soll – von der elektronischen Patientenakte (ePA) über die Funktionalitätszunahme der elektronischen Gesundheitskarte, die neue aufgesetzte Telematik und zig weitere Vorgaben -, dann ist es natürlich eine große Herausforderung, auch noch neue Behandlungsformen einzuführen. Da müssen die Ärzte und das medizinische Personal über die damit verbundenen Möglichkeiten informiert und von der Sinnhaftigkeit überzeugt sein. Das wird vermutlich eine Weile dauern.

Wie sieht es mit der Bereitschaft der Patienten aus, verschriebene Medizin-Apps zu nutzen? Ist die Nachfrage bei den Hausärzten stark oder sind die Patienten da eher zurückhaltend?

Nokaj: Während die Angebotsseite dynamisch wächst, steckt die tatsächliche Nutzung hingegen in den Kinderschuhen – und hier braucht es wie eben schon gesagt vor allem eins: Geduld. Bemerkenswert ist, dass viele Anfragen für die Nutzung einer App direkt bei einer Krankenkasse gestellt werden. Die Patienten wenden sich nicht ausschließlich an die Ärzteschaft, sondern auch vertrauensvoll an die Krankenkassen.

Und wie steht es um die Bereitschaft von Ärztinnen und Ärzten, Apps zu verschreiben? Ist da schon genügend „digitaler Sachverstand“ vorhanden?

Höschel: Die Bereitschaft, Sinnvolles für die Patienten zu tun, ist immer vorhanden. Sonst wäre man im Ärzteberuf völlig falsch aufgehoben. Noch mangelt es an echter Evidenz. Wir wissen nicht genau, was es wirklich bringt. Da hoffen wir auf mehr Informationen durch die Kammern und die Kassenärztlichen Vereinigungen. Es müssen auch mehr Fortbildungsmaßnahmen stattfinden. Und dann wird sich das auch gut entwickeln. Der digitale Sachverstand an sich ist bei weitem da. Wo dieser Weg erfolgversprechend für Patienten und Behandler ist, wird er gegangen werden.

Nokaj: Digitale Medizin benötigt digitale Kompetenzen. Um verantwortungsvoll mit den neuen Möglichkeiten umzugehen, müssen das notwendige Wissen zu Funktionsweise, Chancen und Risiken digitaler Anwendungen als auch die praktischen Fähigkeiten, die Anwendungen zu bedienen, vermittelt werden. Auch im Bereich digitale Kompetenz gibt es zahlreiche Angebote in der Aus-, Fort- und Weiterbildung. Neben den Angeboten des Marburger Bund, informiert auch der Spitzenverband digitale Gesundheitsversorgung gezielt mit CME-zertifizierten Seminaren über die Behandlung im Kontext von DiGAs. Wie bereits im Masterplan 2020 des BMG festgeschrieben, ist es eine zusätzliche Option, diese digitale Kompetenz auch im Rahmen des Medizinstudiums zu vermitteln.

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Die Vorteile der Vernetzung zwischen Haus- und Fachärzten, Radiologen, Kliniken, Physiotherapeuten, Apothekern und anderen Playern liegen auf der Hand. Wie weit ist das gediehen?

Nokaj: Die sichere optimale Vernetzung – abgesehen von der Vernetzung über Telefon, Fax und Internet – ist noch nicht weit fortgeschritten. Es liegt weniger an der Telematikinfrastruktur (TI) und den zugehörigen Diensten wie ePA und E-Rezept, sondern vielmehr an der Akzeptanz der Beteiligten, die beeinflusst wird von der Praktikabilität und dem Nutzen. Die derzeitige Gesundheitskarte zum Beispiel wird überall in den Praxen elektronisch eingelesen, aber der Austausch der Patienten-Informationen findet noch analog über Telefon, Fax und Papierdokumente statt. Zudem ist die Nutzung der Dienste auch freiwillig. Wenn Sie zum Arzt gehen und danach zum anderen Facharzt oder ins Krankenhaus müssen, werden Sie sehr wenige Ärzte finden, die Ihre Daten elektronisch und digital teilen. Die Dienstleiter im Gesundheitswesen wie BFS, außer die Primärhersteller, sind auch noch nicht in Gänze in den Prozessen bedacht, und das wird auch noch etwas dauern.

Höschel: Die Telematik Infrastruktur steht. Die Nutzung muss allerdings einfacher werden. Und schneller. Wir haben in Deutschland allerdings die Besonderheit eines sehr umfangreichen Datenschutzes – manche sagen, er sei zu umfangreich und dadurch hinderlich. Es ist immer noch einfacher und zeitsparender, eine Röntgen-CD mit der Post zu verschicken, als sie digital zu übermitteln. Dafür müssten viele Vorschriften beachtet werden, und unter anderem muss eine Verschlüsselungssoftware verwendet werden. Die ist aber nicht einheitlich – und so weiter. Röntgenbild ausgedruckt, Briefmarke drauf, fertig – das ist leider oft immer noch einfacher.

Es gibt Klagen, wonach die Schaffung der TI nicht schnell und umfassend genug vorankommt. Brauchen wir mehr Tempo?

Nokaj: Tempo eines einzelnen Players reicht hier nicht aus. Auch ein gegenseitiges Ausspielen der gematik (Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte) und der Industrie ist nicht zielführend. Sämtliche Gesundheitsinformationen werden in der ePA standardisiert, datensicher, und zugreifbar am Point-of-care für alle gebündelt, sofern der Patient zustimmt. Um dies effizient nutzbar zu machen, ist das Zusammenspiel und ein gut strukturiertes Vorgehen wichtig. Erfolgreiche Digitalisierung durch Interoperabilität ist ein Gemeinschaftsprojekt und kann nicht im Alleingang gelöst werden. Ein konstruktiver Austausch mit allen Playern ist unerlässlich.

Wie steht es inzwischen um die elektronische Patientenakte, wann könnte sie für die meisten eine Selbstverständlichkeit sein? Ab Januar 2022 soll die ePA in den Krankenhäusern funktionieren. Ist diese Frist noch realistisch?

Nokaj: Wichtiger ist doch, wie notwendig diese nächsten Schritte und Funktionen für die Akzeptanz und den Nutzen der ePA sind. Laut einer Bitkom-Umfrage von Mai 2021 wollen zwei Drittel der Befragten (66 Prozent) sie künftig gern nutzen, aktuell haben sie allerdings erst 0,2 Prozent in Gebrauch. Einen Anschluss an die Krankenhauslandschaft fördert den individuellen Nutzen und ermöglicht es unter anderem die Arztbriefe, Befunde, Notfalldaten, pflegerischen Informationen, die Medikation und auch die Anamnese zu sammeln. Für die Anbindung bis 2022 müssen die Kliniken offene Fragen aus den Bereichen Organisation – Auswirkungen auf Arbeitsprozesse und Zuständigkeiten – Technik und begleitende Kommunikation und Wissensvermittlung für sich umsetzen.

Höschel: Auch da scheint mir der Zeitaufwand für die Ärzte noch sehr hoch zu sein: Es geht los mit dem e-Arztausweis, also dem elektronischen Heilberufsausweis, der erstmal eingelesen werden muss. Dann muss aus dem System die Akte ausgelesen werden. Dann muss die entsprechende Datei ausgelesen und der richtige Befund gefunden und weitergegeben werden. Das ist alles machbar, keine Frage. Aber wenn wir mal den Aufwand zeitlich dagegen rechnen, diesen gesamten Arbeitsprozess bis zur Übertragung des Befundes, dann frage ich mich, wie viele Patienten der Doktor in dieser Zeitspanne behandelt hätte. Zudem: Es gibt mittlerweile so viele Ausweise und Signaturkarten, dass man leicht den Überblick verlieren kann, welche Karte für was richtig ist. Da sind einfachere Lösungen gefragt.

Sind die Abrechnungssystem den Anforderungen der Digitalisierung schon ausreichend gewachsen?

Höschel: Bei den Krankenversicherungen läuft das nach Einschätzung des Bundesverbandes Verrechnungsstellen Gesundheit e.V. (BVVG) längst sehr gut. Da ist fast alles digitalisiert. Wenn Abrechnungsprogramme nicht funktionieren würden, würden die Ärzte sehr schnell den Anbieter wechseln. Im ambulanten Bereich sind Praxen inzwischen 99 Prozent digital. Im stationären Bereich ist die Sache schwieriger. Das ist komplexer. Die einzelnen Klinikbereiche – von der Radiologe über die Chirurgie bis zur Psychiatrie – haben oft ganz unterschiedliche Verwaltungssysteme. Da haben sich Softwarefirmen jeweils spezialisiert. Es ist schwierig, diese komplexen Systeme zusammenzuführen. Es gibt bislang keine Software, die alles super kann.

Werden für telemedizinische Leistungen – wie auch die elektronischen Arztbriefe – die richtigen Anreize gesetzt?

Nokaj: In unserem Arbeitsalltag bei BFS health finance widmen wir uns der Etablierung neuer Services. Wir waren einer der ersten Abrechnungsdienstleister für telemedizinische Leistungen und haben hier Herausforderungen und Aufklärungsbedarf bei den technischen Voraussetzungen in Bezug auf die Schnittstellen bemerkt. Außerdem beobachten wir bei der Abrechnung von Videosprechstunden, dass es für Privatversicherte in der GOZ oder GOÄ keine feste Gebührennummern für die Videosprechstunde gibt.

Ein wichtiger Anreiz kann auch die Ausweitung des Kommunikationsdienstes KIM (Kommunikation im Medizinwesen) sein. Dies ermöglicht Praxen, medizinische Dokumente elektronisch und sicher über die Telematikinfrastruktur (TI) zu versenden und zu empfangen.

Hier tut sich aktuell sehr viel: Mit dem E-Rezept, der E-Patientenakte, TI-Messenger, DiGAs etc. Es gilt jetzt diese Dienste sinnvoll und geordnet in den gesamten Versorgungsprozess zu integrieren und weiterhin zu optimieren, um mit dem erhöhten Nutzen die richtigen Anreize zu schaffen.

Zusätzlich ist es aus unserer Sicht als Dienstleister wichtig und wünschenswert früh in die Prozesse einbezogen zu werden.

Wir – als Dienstleister – und die Patienten haben leider noch keine Möglichkeit, diesen Dienst zu verwenden. Dies wäre aus unserer Sicht jedoch sinnvoll, da die TI und angeschlossene Dienste – wie KIM – höchste Sicherheit bietet und daher für alle Beteiligten im Gesundheitswesen nutzbar gemacht werden sollten. Ansonsten, besteht die Gefahr, dass sich Parallelsysteme aufbauen, die keinen klar definierten gesetzlichen Sicherheitsrahmen bieten.

Täuscht der Eindruck oder haben noch recht viele Ärzte Vorbehalte gegen den Anschluss an das Gesundheitsdatennetz?

Nokaj: Die einen mehr und die anderen weniger. Die Praxen kümmern sich in erster Linie um die Versorgung der Patienten. Die technischen und regulatorischen Anforderungen betrachten sie eher nachgelagert. Bietet sich jedoch ein klarer Vorteil für die Patientenversorgung, dann sind die meisten Leistungserbringer den Veränderungen gegenüber offen eingestellt. Überzeugend für die Praxen kann der Push an neuen Patienten, neuen Versorgungsangebote und natürlich finanziellen Anreizen sein.

Höschel: Richtig, die Ärzte sind durchaus bereit, das zu machen, wenn ein Nutzen für die Patienten da ist. Wenn das aber noch mehr Kontrollbürokratie bedeutet und mit einer Technologie verbunden wird, die schwer beherrschbar ist, dann sagen wir: Wir wollen lieber die Patienten behandeln.

Skepsis gibt es auch in der Bevölkerung, manche befürchten den „gläsernen Patienten“. Wie könnte die Akzeptanz für digitale Gesundheitsanwendungen erhöht werden?

Höschel: Die Angst vieler Menschen, dass plötzlich Informationen über ihre Krankheiten irgendwo im Netz auftauchen oder gehackt werden – vielleicht sogar, um sie dann zu erpressen – ist verständlich. Wir haben doch schon oft gehört, dass Clouds gehackt wurden und sensible Daten im Netz herumschwirren. Und die Ärzte wollen natürlich auch nicht dafür verantwortlich gemacht werden. IT-Sicherheit muss an oberster Stelle stehen und überzeugend vermittelt werden.

Nokaj: Unabhängig davon ist auch wichtig, den potenziellen Nutzen digitaler Anwendungen für die Allgemeinheit zu erläutern: In zwei Jahren können Patienten ihre Daten über die ePA freiwillig – natürlich anonymisiert – spenden. Und das bringt ihnen nur Vorteile, sobald Wissenschaft und Industrie über einen reglementierten Zugang auf diese Gesundheitsdaten zugreifen können. So lassen sich beispielsweise Wahrscheinlichkeiten für Krankheitsverläufe oder Behandlungserfolge ableiten. Auf diese Weise werden innovative Therapien oder Tools von Treibern aus der Gesundheitswirtschaft entwickelt, die Einzug in die Regelversorgung halten. Dieses Vorgehen bringt Patienten, Leistungserbringern, Krankenkassen, Forschungseinrichtungen sowie der Unternehmens- und Start-Up-Welt Vorteile: Durch die Vernetzung aller Player könnte ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt werden, der das Ziel vor Augen hat, die medizinische Versorgung zu optimieren.

Wie steht es um die Chancen der Nutzung künstlicher Intelligenz (KI) in der Medizin – vom gesamten Bereich der Diagnostik bis hin zu den verschiedensten Behandlungen? Science-Fiction oder brauchen wir einfach mehr Mut, das Neue zu wagen?

Höschel: Mehr Mut auf alle Fälle, aber immer auch Augenmaß. Science-Fiction ist KI in der Medizin aber längst nicht mehr. Unter anderem in der Radiologie nutzt man das. Zum Beispiel, wenn bei der Auswertung von Röntgenbildern bestimmte Schädelstrukturen vermessen werden müssen. Künstliche Intelligenz kann auch die Auswertung von Laborwerten übernehmen, Parameter miteinander in Bezug bringen und dann Empfehlungen geben. Auch den Abgleich von Medikamenten, um Unverträglichkeiten zu finden, kann sie erledigen. Das spart Zeit und Ärzte können sich besser dem Patienten widmen.

Nokaj: Ja, wir müssen den Mut haben medizinischen Fortschritt zu wagen. KI ist ein wichtiger Bestandteil in der Etablierung neuer Versorgungskonzepte, die den Patienten zugänglich gemacht werden. KI kann helfen, Ärzte zu Entlasten und Patienten Sicherheit zu bieten. In Bereichen wie der Onkologie oder Radiologie hat KI vielfach schon Einzug gefunden. Aber auch neue Versorgungsangebote wie zum Beispiel virtuellen Kliniken könnte mit KI gezielt Patienten ein digitales Tool an die Hand geben, welches den Krankheitsverlauf trackt und bei Bedarf die Ärzte einschaltet. Dadurch können Patienten und Ärzte auf alle notwendigen Informationen zurückgreifen und frühzeitig Veränderungen im Krankheitsverlauf erkennen und eingreifen

Dieses Interview ist zuerst im Tagesspiegel unter tagesspiegel.de erschienen. Lesen Sie hier das Interview im Tagesspiegel.

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