
Praxismanagement
Aufklärung bei neuartigen Behandlungsmethoden
15. November 2021
Dass der ärztlichen Aufklärung nicht erst seit der Einführung des Patientenrechtegesetzes ein großer Stellenwert zukommt, ist längst bekannt. Grundsätzlich muss der Arzt den Patienten insbesondere vor operativen Eingriffen über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufklären. Dazu gehören insbesondere Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie (§ 630e BGB).
In einer kürzlich veröffentlichten Entscheidung hat sich der Bundesgerichtshof (BGH) nun mit den Aufklärungspflichten bei Anwendung einer (noch) nicht allgemein anerkannten Behandlungsmethode beschäftigt (Urteil vom 18.05.2021, Az. VI ZR 401/19).
Geklagt hatte ein Patient, bei dem eine Bandscheibenendoprothese implantiert worden war, die – anders als die bis dato am Markt gebräuchlichen Prothesen – vollständig aus Kunststoff bestand und keinen äußeren Titanmantel aufwies. Nach der Implantation wurden von dem Prothesenhersteller zunächst eine Charge des Prothesentyps, später dann sämtliche Prothesen des bei dem Kläger eingesetzten Typs zurückgerufen.
Einige Jahre nach der Implantation traten bei dem Kläger Schmerzen im Bereich der unteren Lendenwirbelsäule auf. Es zeigte sich, dass sich Teile des Prothesenkerns gelöst hatten, in den Spinalkanal gewandert waren und dort auf die Wurzel S 1 drückten. Die Prothese wurde daher entfernt und durch einen Cage (= Platzhalter für entfernte Bandscheiben) ersetzt.
Der Kläger machte anschließend geltend, dass der ursprüngliche operative Eingriff nicht von seiner Einwilligung gedeckt gewesen sei, da er nicht über die mit dem Einsatz der neuartigen Kunststoffprothese verbundenen Risiken aufgeklärt wurde und verlangte ein Schmerzensgeld. Der BGH gab dem Klageantrag in letzter Instanz statt.
Zur Begründung führte das Gericht aus, bei der Implantation der Kunststoffendoprothese habe es sich um eine Neulandmethode gehandelt. Die Prothese war im Gegensatz zu den herkömmlichen Implantaten klinisch noch nicht hinreichend erprobt. Bei der Anwendung einer (noch) nicht allgemein anerkannten medizinischen Behandlungsmethode seien zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten erhöhte Anforderungen an dessen Aufklärung zu stellen. Dem Patienten müssen nicht nur das Für und Wider dieser Methode erläutert werden, sondern er ist auch darüber aufzuklären, dass der geplante Eingriff nicht oder noch nicht medizinischer Standard ist.
Will der Arzt eine noch nicht anerkannte Behandlungsmethode anwenden, muss er den Patienten außerdem darüber aufklären, dass unbekannte Risiken derzeit nicht ausgeschlossen werden können. Denn eine Neulandmethode darf nur dann angewendet werden, wenn dem Patienten zuvor unmissverständlich deutlich gemacht wurde, dass die Methode die Möglichkeit unbekannter Risiken birgt. Nur so kann der Patient abwägen, ob er sich nach der herkömmlichen Methode mit bekannten Risiken behandeln lassen möchte oder nach der neuen Methode unter besonderer Berücksichtigung der in Aussicht gestellten Vorteile und der noch nicht in jeder Hinsicht bekannten Gefahren.
Da der Arzt den Kläger in diesem Fall weder darauf hingewiesen hatte, dass die geplante Implantation der Kunststoffendoprothese noch nicht medizinischer Standard war, noch darauf, dass sie die Möglichkeit unbekannter Risiken mit sich brachte, war der Eingriff nicht von der Einwilligung des Patienten gedeckt.
Nach Auffassung des BGH konnte sich der behandelnde Arzt zudem auch nicht darauf berufen, dass der Kläger bei ordnungsgemäßer Aufklärung in den Eingriff eingewilligt hätte. Denn bei einer nicht anerkannten Behandlungsmethode seien besonders strenge Anforderungen an die hypothetische Einwilligung zu stellen.
So führte das Gericht aus, dass der Patient die Dimension der vor der Behandlung zu treffenden Abwägungsentscheidung und damit auch die Möglichkeit eines Entscheidungskonflikts nicht zu erkennen vermag, wenn ihm weder bekannt ist, dass der Arzt bei ihm eine solche Methode angewandt hat, noch, dass diese mit unbekannten Risiken verbunden sein kann.
An die Substantiierungspflicht des Patienten zur Darlegung, dass er bei ordnungsgemäßer Aufklärung vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte, dürfen dabei keine zu hohen Anforderungen gestellt werden; dies gilt in besonderem Maße, wenn der Arzt eine noch nicht allgemein anerkannte Behandlungsmethode angewandt hat. Dies wurde im entscheidenden Fall von dem erst- und zweitinstanzlichen Gericht nicht hinreichend berücksichtigt, da dem Kläger bislang nicht mitgeteilt worden war, welche Aufklärung ihm hätte zuteil werden müssen. Daher wurde der Rechtsstreit letztlich zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurück verwiesen.
Für die Praxis lässt sich daraus ableiten, dass bei Anwendung noch nicht allgemein anerkannter Behandlungsmethoden ein besonderes Augenmerk auf die ordnungsgemäße Aufklärung zu legen ist.